„Ich will verstehen“ – ein freier Kommentar zur aktuellen gesellschaftspolitischen Lage

Es gibt viele Dinge auf dieser Welt, die ich gerne verstehen möchte.

In diesem Verlangen, aktuelle Geschehnisse begreifen zu wollen, bin ich aber wohl nicht die einzige.

Vielen meiner Mitmenschen geht es anscheinend ähnlich. Sie fühlen sich oftmals sogar einem Ohnmachtsgefühl ausgesetzt und mit der Frage nach einem ‚Warum?‘ konfrontiert.

In ihrer Verzweiflung, eine Antwort auf diese klägliche Frage zu finden, scheint es allerdings vielen Menschen einfacher zu fallen, anhand potenzieller ‚Schuldigen‘ eine Erklärung zu ersuchen.

Und wahrscheinlich finden wir hier auch das Malheur für all die vermeintlichen Probleme, die unsere Gesellschaft zu spalten drohen: Wir haben aufgehört, einander zuzuhören und zu verstehen – und stattdessen damit begonnen, DAS Böse anzuprangern.

Dabei klammert sich jeder krampfhaft an seiner eigenen Weltanschauung. Eine egoistische Art, wie ich nämlich finde. Andersdenkende werden mit Hass und Gewalt bestraft. Die Frage nach dem „Zu Recht!“ wäre eine andere – aktuell ist es aber viel mehr die Frage danach, warum es Menschen gibt, die anders denken. Nämlich anders entgegen eines humanistischen Verständnisses.

Das dichotome Denken auflösen

Es wird viel über ein WIR HIER und DIE DA gestritten.

Eine, wie ich finde, gefährliche Dichotomie (=Zweiteilung), die unsere Gesellschaft Stück für Stück auseinander reißt.

Doch warum werden wir in zwei derartige Extreme geteilt, wenn es doch eigentlich schöner wäre, wieder ein großes Ganzes zu bilden?

Ja, manch einer möchte dieses große Ganze vielleicht nicht. Aus Angst, dass die eigene Wirklichkeit damit gefährdet werden könnte.

Aber nichts anderes wünsche ich mir für uns, als dass wir wieder an einer gemeinsamen Wirklichkeit arbeiten.

Denn ich ertrage nicht mehr dieses WIR HIER und DIE DA. Warum kommt IHR DORT DRÜBEN nicht HERÜBER ZU UNS? Lasst die Dunkelheit, in die ihr euch zurückgezogen habt, nicht länger Herr über eure Gedanken sein. Die Welt ist doch viel schöner im Lichte einer Nächstenliebe.

Wer oder was sind WIR?

Es gilt für uns, zu verstehen, warum DIE DA sich bewusst aus einem gesellschaftlichen WIR ausgeklammert haben. Dabei stellt sich jedoch gleich die Frage, wie dieses WIR zu definieren ist.

Und wenn es Aufgabe der Politik ist, die Welt zu einem passenden Zuhause für den Menschen zu machen, erhebt sich die Frage: ‚Was ist ein passendes Zuhause für den Menschen?‘ Darüber kann nur entschieden werden, wenn wir uns eine Idee davon bilden, was der Mensch ist oder sein soll.“, sprach einst der Philosoph Hans Jonas aus.1

Doch wieso sollte man überhaupt davon ausgehen, dass WIR HIER den einzig richtigen Orientierungspunkt darstellen?

Ganz einfach: Weil dieses WIR humanistische Grundwerte in sich vereint, die für ein friedliches Zusammenleben unerlässlich sind.

Werte, die den Einzelnen daran erinnern sollen, dass JEDER Mensch egal welcher Ausprägung eine Daseinsberechtigung in dieser Gesellschaft hat und entsprechend respektvoll zu behandeln ist.

Werte, die uns darauf hinweisen, dass eine Nationalität, Kultur oder Religion nicht als ein Ausgrenzungsmechanismus zu missbrauchen ist.

Und nein, hier wird keine linke Antwort auf eine rechte Ausartung formuliert.

Wenn von einem humanistischen Grundverständnis gesprochen wird, so ist hier allein die Rede von einem selbstverständlichen Konsens.

Hierbei kommt es in unserer Gesellschaft auf folgende Werte an:

Auf Individualität: Jeder Mensch hat das Recht dazu, seine Persönlichkeit entsprechend seiner Potenziale zu entfalten sowie diese aktiv zu erproben – ohne dabei das Wohlergehen seiner Mitmenschen zu gefährden. Es gilt immer noch Art. I unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Auf Humanität: Unser gemeinschaftliches Credo muss auf einem respektvollen Miteinander gründen. In dem Zusammenhang ein entscheidender Hinweis vonseiten des deutschen Schriftstellers Hans Kaspers: „Die Humanität erreichte mehr, wenn sie, statt die Gleichheit zu loben, zum Respekt vor dem Wunder der Vielfalt riete.

Auf Solidarität: Der gesellschaftspolitische Konsens besteht darin, stets im Sinne des Gemeinwohls zu handeln. Gerade in Zeiten von Krisen ist es der Zusammenhalt, der uns eine universale Stärke geben kann. Ein Afrikanisches Sprichwort bringt es auf den Punkt: „Wenn viele Menschen gemeinsam gehen, entsteht ein Weg.

Einzig ein solidarisches MITeinander bringt uns den endgültigen Frieden in die Gesellschaft – und nicht dieses hasserfüllte GEGENeinander im Sinne eines „Wir wollen euch hier nicht haben!“, das Ausgrenzungstendenzen nur noch mehr verstärkt.

Liebe Politik, Probleme können nur mit konkreten Handlungsinitiativen gelöst werden.

Die zunehmende rechte Gewalt ist ein alarmierendes Indiz für einen gesellschaftlichen Systemfehler.

Wir leben in einem demokratischen Staat, der sich jedoch auch seiner Zweitfunktion bewusst sein muss, als ein Rechtsstaat die Würde jedes Einzelnen zu schützen sowie eine öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Beides ist zurzeit in akuter Gefahr.

Dass manche Politiker erkannt haben, dass der Rechtspopulismus ausschließlich von ungelösten Problemen leben würde, ist erfreulich – davon klären sich diese Probleme allerdings nicht von selbst. Statt derartige leere Prognosen zu stellen muss endlich gehandelt werden – und ich weiß nicht, wie viele Menschen von der Basis bereits konkrete Forderungen in dieser Richtung gestellt haben. Aber das scheint die aktuelle Politik tatsächlich wenig zu interessieren. Die Tendenz geht eher dahin, dass unsere PolitikerInnen augenscheinlich selbst verzweifelt im Kreis herumrennen, ohne sich bewusst Gedanken darüber zu machen, wie die immer stärker auflodernden Flammen in unserer Gesellschaft am besten zu ersticken sind. Als eine Sozialdemokratin solch eine Entwicklung wahrzunehmen, ist sehr frustrierend. Und an dieser Stelle wundert es mich nicht, warum Menschen zunehmend das Vertrauen in die Regierungspolitik verlieren; warum die sogenannten ‚Mehrheitsparteien‘ so sehr um den Erhalt ihrer eigenen Fassade zu kämpfen haben.

Natürlich hat da eine AfD leichtes Spiel. Sie bietet diesen zutiefst enttäuschen Menschen eine Art ‚Erste Hilfe‘ für ihre Verletzungen. Und gleichzeitig gibt sie ihnen das vermeintliche Versprechen, etwas verändern zu können. Eben eine alternative Handlungsweise zur gegenwärtigen Regierungspolitik. Traurig nur, dass viele dieser besorgten BürgerInnen noch nicht realisiert haben, dass der Schein trügt. Dass sie selbst nur das Mittel zu einem völlig ekelhaften Zweck darstellen.

Ja, auch die AfD möchte um jeden Preis ein neues WIR in unserer Gesellschaft etablieren. Allerdings ein WIR geformt nach einem nationalistischen Maßstab. Richtig: Menschen werden hierbei nach Äußerlichkeiten bewertet und entsprechend aussortiert. Verspüren Sie gerade in Ihrem Inneren auch ein Kopfschmerzen bereitendes Déjà-Vu…?

Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen damit geht, aber mich beschäftigt eine Frage ganz besonders.
Warum denken diese Menschen SO?
Haben sie schon immer SO gedacht?
Oder wann haben sie damit angefangen, SO zu denken?

So … so böswillig? So menschenverachtend?

Warum ich nun verstehen will

Als eine politische Theoretikerin hat es Hannah Arendt damals gut zusammengefasst:

Verstehen heißt nicht, das Empörende leugnen […] Verstehen heißt vielmehr, die Last, die unser Jahrhundert uns auferlegt hat, untersuchen und bewußt tragen – und zwar in einer Weise, die weder deren Existenz leugnet noch sich unter deren Gewicht duckt.“2

Unter diesem Gedanken möchte ich verstehen, wie Links-Rechts-Bewegungen zurück in die Mitte geführt werden können. Ich halte noch einmal fest:

1) Vermeintlich linke Forderungen dürfen nicht länger als nur solche abgestempelt, sondern in selbstverständliche Antworten auf menschenfeindliche Tendenzen umgedeutet werden.

2) Rechtes Gedankengut darf nicht isoliert, sondern muss in seinem inhaltlichen Konstrukt begriffen sowie in einzelne kritische Botschaften aufgetrennt werden.

3) Die ‚Hate Speech‘ vieler Menschen ist eine Rebellion gegen etwas, womit sie nicht zufrieden sind.
Wir müssen also verstehen, worin ihre Unzufriedenheit gründet.

4) Um diesen Menschen zu beweisen, warum die Orientierung nach Rechts KEINE Alternative für Deutschland bedeuten kann, liegt es nun an unserer eigenen Überzeugungskraft.

5) Die Überzeugungsarbeit ist jedoch das eine; vielmehr kommt es auf die Beweisstärke unserer Aufrufe an. Es liegt an uns, unseren Mitmenschen zu beweisen – ja, ihnen wahrhaftig zu demonstrieren, warum die Werte, für die wir stets auf die Straße gehen und unsere Stimme erheben, wenn andere Menschen entgegen dieser Werte ihre rechte Hand in die Luft hissen – warum uns nur der Schutz von Individualität und Humanität sowie die Bereitschaft zur Solidarität den sozialen Frieden zurückbringen kann.

Und wenn andere Menschen verstehen – im selben Sinn, wie ich verstanden habe –, dann gibt mir das eine Befriedigung wie ein Heimatgefühl.“3

Liebe Freunde, ich habe nun verstanden – wir müssen in den nächsten Monaten kämpfen.
Wir müssen kämpfen, weil wir etwas Wertvolles verteidigen müssen.
Nämlich ein Wertesystem, das das Fundament unseres gesellschaftlichen Bandes darstellt. Und wir können und dürfen nicht länger stumm mit ansehen, wie Pluralitätsverachter versuchen, dieses Miteinander niederzureißen.
Lasst uns also die Gewalt unserer Stimme sowie die Kraft unseres sozialdemokratischen Verstandes dafür nutzen, um DEN ANDEREN zu zeigen, dass es für den Erhalt unserer Gesellschaft nur EINEN Weg gibt, denn WIR ALLE zu gehen haben.

„Wir müssen Emotionen für unsere positiven Ziele einsetzen, um dem Einfluss der Populisten entgegenzuwirken.“4


1 in einer Debatte mit der politischen Theoretikerin Hannah Arendt über das „Denken und Handeln“ in der Politik (1972)

2 zitiert nach: „Preface to the First Edition“ (1950), in: The Origins of Totalitarianism

3 Hannah Arendt im Fernsehgespräch mit Günter Gaus (1964)

4 Martha Nussbaum, zitiert nach: http://www.zeit.de/campus/2017/01/martha-nussbaum-philosophin-angst-nutzen-populismus


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