Eine gerechte Gesellschaft ?
Vorbemerkung
Ich erinnere mich an keinen Wahlkampf in den letzten Jahrzehnten, in denen die SPD nicht die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit gestellt hätte. Diese Zielvorstellung, nachhaltige Verantwortungsethik, Bildungsoptionen, ökologisch-soziale Modernisierungsbestrebungen, sichere Arbeitswelten und ein Interessenausgleich in internationalen Beziehungen gehören für mich zum politischen Markenkern der Sozialdemokratie.
Erschreckend deshalb, dass im Zusammenhang mit den bei Wahlen üblichen empirischen Wahlforschungsanalysen zum Berliner Abgeordnetenhaus 2016 nur noch 33% der Wähler der SPD Kernkompetenzen im Bereich von sozialer Gerechtigkeit zuschreiben, während noch vor ca. 20 Jahren hier Werte von 60% und mehr gängig waren. Wieso ist das so? Worauf beziehen sich Menschen und was erwarten sie, wenn sie soziale Gerechtigkeit zum Kriterium ihrer Wahlentscheidung erklären?
Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit
Zunächst einmal leitet sich die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit aus objektivierbaren Daten sozialer Ungleichheit her, d.h. solcher Faktoren, die sich vorteilhaft oder nachteilig auf Lebensbedingungen von Menschen auswirken. Sie hat aber auch eine subjektive Dimension, nämlich immer dann, wenn die jeweiligen Lebensumstände im Abgleich mit denen Anderer als gerecht oder ungerecht, legitim oder illegitim erachtet werden.
Unvorteilhafte Lebensbedingungen sind dabei relativ leicht zu fassen: sie machen sich an nachvollziehbaren empirischen Tatbeständen fest. Schwieriger wird es allerdings, wenn es um die damit einhergehenden und daraus resultierenden Deutungen, Rechtfertigungen und Wertungen geht, denen auch alltagstheoretische Vorstellungen zu Grunde liegen, bei denen soziale Merkmale (z.B. Geschlecht, Alter, ethnische Zugehörigkeit), aber auch Annahmen und das Bewusstsein um die Ursachen zur Entstehung von ungleichen Lebensformen bewertungsrelevant und bedeutsam werden. Die Überlegungen zu den Ursachen sozialer Ungleichheit hängen unmittelbar mit den Gerechtigkeitsvorstellungen zusammen. Aus ihnen bestimmt sich, was im Diskurs und Streit um Anteile am gesellschaftlichen Reichtum oder die Organisation der Verteilung, ihre Maßstäbe und Verteilungsprinzipien geboten erscheint.
Die Denkschulen des Liberalismus haben soziale Ungleichheit als unentbehrlich für die gesellschaftliche Ordnung und das Funktionieren der Gesellschaft betrachtet. Ungleichheit wird hier zu einem Steuerungs- und Belohnungselement, um relevante Positionen mit den am besten qualifizierten Personen zu besetzen. Das Leistungsprinzip wird zum entscheidenden Moment zur Sicherung von Eigeninitiative und Selbstverantwortung der Individuen, die in gesellschaftliches Handeln umgesetzt werden. Die daraus resultierende ungleiche Verteilung gilt als gerecht.
Dieser Theorie stehen konflikt- und machttheoretische Auffassungen gegenüber, die in den ungleichen Eigentumsverhältnissen und den damit verbundenen Möglichkeiten von Machtausübung die zentrale Ursache für die ungleiche Verteilung gesellschaftlicher Güter und Vorteile sieht. In ihrer Wirkung destabilisiert dies die Gesellschaft, gefährdet den sozialen Frieden und wird als zutiefst inhuman und ungerecht empfunden. Das daraus folgende Prinzip der Bedarfs- und Teilhabegerechtigkeit äußert sich in einer Vielzahl von konkreten Maßnahmen und speist sich aus einer bunten Facette unterschiedlicher Quellen, wie dem sozialistischen Ideal der Verteilungsgleichheit, dem Konzept sozialstaatlich-karitativer Normierung, etwa in den Verfassungsgrundsätzen des demokratischen und sozialen Rechtsstaates nach Art. 20 GG, oder der Idee eines diskursiven und politisch legitimierten Umverteilungsprozesses.
Aktuelle Befunde einer „gespaltenen“ Gesellschaft
Alle Studien zur sozialen Ungleichheit belegen, dass in Deutschland die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen nach einer Phase moderater Ungleichheit in den 60er und 70er Jahren deutlich angestiegen ist. Diese Aussagen beziehen sich nicht auf einen Vergleich der oberen 2% mit der restlichen Bevölkerung, sondern beschreiben eine grundlegende gesellschaftliche Tendenz. Sie lassen sich auch nicht damit relativieren, dass die Ungleichheitsformen im anglo-amerikanischen Raum noch stärker ausgeprägt sind.
Einige zentrale Befunde ungleicher Verteilung seien hier genannt:
- Das oberste Zehntel hat mehr als das 4-fache des verfügbaren Einkommens der unteren 20% der Haushalte.
- Noch krasser sind die Ungleichgewichte bei der Verteilung des Vermögens: hier besitzen die reichsten 10% der Gesellschaft mehr als 60%, die reichsten 20% mehr als 80% des Nettovermögens, während etwa 40% der Gesellschaft überhaupt kein Vermögen oder gar Schulden haben.
- Die Zunahme von Ungleichheit lässt sich dadurch belegen, dass zwischen 1995 und 2014 die Bruttolöhne um ca. 48%, die Unternehmens- und Vermögenseinkommen (trotz Finanzkrise) um etwa 67% angestiegen sind.
- Hinzu kommt das auch von der OECD kritisierte hohe Maß an Chancenungleichheit in Deutschland. In kaum einem Industrieland hängt Bildung so stark von der Herkunft ab; Kinder aus bildungsarmen Schichten schaffen viel seltener universitäre Abschlüsse als Studenten aus dem Bildungsbürgertum.
Angesichts dieser Befunde ist auch der bis Ende der 80er Jahre geltende und mit dem Bild des „Fahrstuhleffekts“ beschriebene Prozess des sozialen Aufstiegs als Folge gestiegener Einkommen und besserer Konsum- und Bildungschancen fragwürdig und brüchig geworden. Die derzeitige Entwicklung lässt sich daher anschaulicher mit der Metapher einer „Rolltreppe“ darstellen, bei der sich die Abstände auf den Treppenstufen zwischen den Individuen verändern. Während es lange nach oben ging, hat sich für einige nunmehr die Fahrtrichtung geändert, wenn auch individuelle Abstiege bislang noch kein Massenphänomen sind. Gleichwohl fährt, kollektiv betrachtet, die Rolltreppe insbesondere für Arbeitnehmer wieder nach unten. Dies ist vornehmlich den Veränderungen in den Arbeitsverhältnissen geschuldet, die längst nicht mehr stabil, sondern vielfach widerrufbar sind. Gesellschaftliche Integration und Stabilität gründete sich in den 60er und 70er Jahren auf unbefristete Stellen mit Kündigungsschutz und sozialer Sicherheit. Heute sind dies nur noch wenig mehr als 2/3 aller Beschäftigungsverhältnisse; alle anderen arbeiten in befristeten, geringfügigen Jobs, in Teilzeit oder als sog. Solo-Selbständige. Ihre Arbeitswelt ist in der Regel nicht geprägt von den großbetrieblichen Strukturen der Industriearbeit im 20. Jahrhundert, sondern durch die Logik einfacher Dienstleistungstätigkeiten (Service, Reinigung, Pflege, Transport), die zur Sicherung der Abläufe flexiblen Einsatz erfordern und kaum Aufstiegsmöglichkeiten eröffnen. Produktivitätseffekte und Spielräume für eine effizientere Gestaltung in diesen Arbeitsfeldern ergeben sich nicht durch den Einsatz von Maschinen, sondern ausschließlich durch Verringerung des Zeittaktes zu Lasten der Beschäftigten. Diese Entwicklungen haben ein neues Dienstleistungsproletariat entstehen lassen, das, anders als die Industriearbeiterschaft, schwer für eine kollektive Interessenvertretung zu organisieren ist.
Dies wie auch die gestiegene Ungleichheit wirkt sich nicht nur auf den sozialen Zusammenhang innerhalb der Gesellschaft aus, sondern gefährdet auch die Demokratie. Heinz Bude hat in seinem Buch „Das Gefühl der Welt“ die Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern in der Mitte der Gesellschaft eindrucksvoll analysiert. Neben die, die gesellschaftliche Degradierung erlebt haben, treten diejenigen, die sich in ihren kleinen Lebenswelten bedroht fühlen, und sich im alltäglichen Überlebenskampf von den Politikern übergangen sehen. Sie fühlen sich in ihrer Arbeitswelt und im Alltag als die Leidtragenden des Erfolgs der Anderen, fühlen sich missachtet und sind der Überzeugung, dass die Zukunft ihnen nichts mehr verspricht und dass eine Beteiligung an diesem System sich nicht lohnt.
Politische Maßnahmen für eine gerechte Gesellschaft
Was also dagegen tun, um der Spaltung und der Desintegration innerhalb der Gesellschaft entgegenzuwirken? Politische Maßnahmen zur Verringerung von Ungleichheit erhalten hohe Zustimmung. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung vom Mai 2016 mit einer repräsentativen Befragung zur „Zukunft des Wohlfahrtsstaates“ und zu den Präferenzen zur Ausrichtung und Finanzierung des Sozialstaates hat ergeben, dass für mehr als 80% der Menschen in Deutschland die soziale Ungleichheit hierzulande zu groß ist. Selbst 72% derer, die die eigene wirtschaftliche Lage als sehr gut einschätzen oder 76% derer, die mit einem Haushaltseinkommen von mehr als 4000 € teilen diese Ansicht.
Die Ergebnisse der Befragung zeigen aber auch, dass es eine recht hohe Zustimmung für konkrete Maßnahmen gibt, nicht zuletzt für Steuern auf hohe Vermögen und Erbschaften. Noch populärer als das Drehen an der Steuerschraube sind aber Forderungen zu Entlastungen mittlerer und unterer Einkommen. Hier spiegelt sich die auch in den öffentlichen Diskursen populäre Einschätzung wider, dass der Staat diese Gruppen unnötig hoch belasten würde. Zwar gibt es durchaus beachtliche Unterstützung für eine höhere Besteuerung von hohen Einkommen und großen Vermögen, aber diese Positionen dürften durchaus mit Gegenwind rechnen. Dies mag auch in der Wahrnehmung begründet sein, dass der Wohlfahrtsstaat, den es zu finanzieren gilt, in den Augen einer relativ großen Bevölkerungsgruppe nicht zur Reduktion von Ungleichheit beitrage.
Angesichts dieser Skepsis am Ausbau des Wohlfahrtsstaates sind ergänzende Überlegungen jenseits von Umverteilungen erforderlich. Der Philosoph John Rawls hat in den 70er Jahren eine Gerechtigkeitstheorie entwickelt, die Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft immer dann als legitim ansieht, wenn sie „den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil“ eröffne. Vor diesem Hintergrund der Gewährung besserer Chancen sind politische Steuerungsmechanismen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen von Arbeitsverhältnissen und damit verbunden eine Anhebung von Löhnen und Gehältern von Erwerbstätigen sowie eine Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns insbesondere in den oben beschriebenen Dienstleistungstätigkeiten dringlich. Dies könnte ein Beitrag sein, das fundamentale Ungleichgewicht zwischen den Löhnen für Beschäftigte einerseits und Unternehmensgewinnen und Vermögenseinkünften andererseits zu entschärfen. Im Zusammenhang mit dem Rawls‘schen Theorem sind schlussendlich auch politische Initiativen für eine neuen Solidarpakt für sichere Renten und günstigen Wohnraum zu nennen, die den früheren Markenkern der Sozialdemokratie widerspiegeln und wieder erkennbar werden lassen, allerdings an anderer Stelle ausführlicher zu begründen wären.